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Unfallverletzungen gerichtsfest dokumentieren – Das Interview mit einem Verkehrsunfallforscher

Die Verkehrsforschung liefert detaillierte Daten zu Unfallarten, Risikofaktoren und Verletzungsmustern. Diese Analysen können Ärzte dabei unterstützen, Verletzungen von Unfallfolgen besser zu rekonstruieren und damit zu dokumentieren –  was für Geschädigte vor Gericht entscheidend sein kann sein.

Dr.-Ing. Heiko Johannsen ist technischer Leiter der Verkehrsunfallforschung an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) und arbeitet mit an der Analyse von Unfällen.

Herr Dr. Johannsen, was ist die Aufgabe der Abteilung Verkehrsunfallforschung an der MHH?

Dr. Johannsen: Wir untersuchen im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen Verkehrsunfälle und fahren dazu auch zu Unfallorten. Dabei wollen wir vor allem mehr über das Unfallgeschehen in Deutschland erfahren, um Präventionsarbeit im Straßenverkehr leisten zu können.

Ein einfaches Beispiel: Wir stellen immer wieder fest, dass Autofahrer Radfahrer zu spät bemerken. Das passiert unter anderem, wenn Radfahrer auf dem linken und rechten Radweg fahren dürfen und die Autofahrer das nicht wissen.

Eine naheliegende Lösung wäre, dass Fahrschulen ihre Fahrschüler besser auf solche Situationen vorbereiten. Eine andere Möglichkeit ist, neue Automodelle mit entsprechenden Assistenzsystemen auszustatten.

Was genau macht das Team der Verkehrsunfallforschung am Unfallort?

Dr. Johannsen: Unser Team besteht aus drei Personen. Wir arbeiten parallel zu allen anderen am Unfallort, also den Ärzten und Rettungssanitätern, die sich um die Verletzten kümmern. Wir nehmen alle Informationen auf, die wir erhalten können. Zwei von uns kümmern sich um die technischen und infrastrukturellen Dinge wie Verkehrsregelungen und Art der Straßengestaltung. Der Dritte aus dem Team ist für den menschlich-medizinischen Bereich zuständig.

Dabei interessiert uns: Wer ist wie schwer verletzt? Wie ist der Unfall passiert? Bei einem Autounfall sagt die Polizei zum Beispiel, einer der beteiligten Fahrer habe die Vorfahrt missachtet. Doch wir wissen, dass die meisten die Vorfahrt nicht missachten, weil sie die Vorfahrt missachten wollen, sondern weil etwas anderes schiefgelaufen ist.

Zum Beispiel hat der Fahrer das Vorfahrtsschild übersehen oder angenommen, dass das andere Auto länger braucht. Solche Details und die Art der Verletzungen sowie die Verletzungsursachen wollen wir am Unfallort herausfinden.

Quelle: /kadmy, stock.adobe.com

Welche Ergebnisse der Verkehrsforschung wurden bisher umgesetzt?

Dr. Johannsen: Es wird laufend etwas umgesetzt, denn neben der Bundesanstalt für Straßenwesen hat auch die deutsche Automobilindustrie Zugriff auf unsere Daten. Die Industrie nutzt die Daten für eigene Entwicklungen, der Bund für Vorschriften.

Zum Beispiel wurden automatische Notbremsassistenten entwickelt. Sie sind inzwischen auch vorgeschrieben, weil man aufgrund der Daten sagen kann: Das bringt mehr Sicherheit. Und auch Tempolimits auf Landstraßen, Gurt- und Kindersitzpflicht, geänderte Promillegrenzen, weiterentwickelte Fahrzeugtechnik und eine bessere medizinische Versorgung haben dazu beigetragen, dass die Zahl der Verkehrstoten und der Schwerverletzten seit Jahren stark rückläufig ist.

Wie kann Ihre Arbeit Medizinern dabei helfen, die Dokumentation von Verletzungen nach Verkehrsunfällen zu verbessern?

Dr. Johannsen: Die Verkehrsforschung ermöglicht ein besseres Verständnis der Unfallmechanismen und deren Auswirkungen auf den menschlichen Körper und somit auch auf die Art der Verletzungen. Wir überprüfen ständig unsere Standards, um sicherzustellen, dass sie noch immer aktuell sind.

Außerdem erstellen wir Analysen, die für Ärzte von Nutzen sind. Durch systematische Abfragen unserer Daten können auch Mediziner unter anderem bei bestimmten Unfallsituationen einsehen, wie wahrscheinlich bestimmte Verletzungen eintreten können.

Können Sie ein Beispiel dafür nennen?

Dr. Johannsen: Zum Beispiel können sich Ärzte besser darauf vorbereiten, was sie an der Unfallstelle erwartet: Wenn ich erfahre, dass ein Auto mit 120 km/h auf das vordere mit 115 km/h aufgefahren ist, klingt das zunächst dramatisch. Doch die Geschwindigkeitsdifferenz beträgt lediglich 5 km/h. In diesem Fall kann man davon ausgehen, dass in der Regel für die verunfallten Personen keine Gefahr für ein Hochrasanztrauma mit lebensbedrohlichen Verletzungen besteht, sondern meist  „nur“ ein Schleudertrauma.

Für Unfallgeschädigte kann eine gerichtsfeste Dokumentation der Verletzungen nach einem Verkehrsunfall von entscheidender Bedeutung sein. Die Kausalität zwischen Unfallereignis und Schaden sollte hinreichend rekonstruiert werden. Welche Details müssen dafür festgehalten werden?

Dr. Johannsen: Eine gerichtsfeste Dokumentation ist sehr umfangreich. Sie sollte alle Auffälligkeiten erfassen, von Hautabschürfungen über Frakturen bis hin zu Verletzungen von inneren Organen. Sinnvoll ist es beispielsweise auch, die Sitzposition der Fahrzeuginsassen zu dokumentieren, da je nach Sitzposition andere Verletzungen auftreten können. Und auch Angaben wie „Wer war angeschnallt, wer nicht?“ gilt es festzuhalten.

Doch an der Unfallstelle kann es manchmal unübersichtlich werden. Fraglich ist, welche Informationen man am Unfallort erhält. Es kann zum Beispiel sein, dass der Notarzt und der Rettungsdienst erst kurz nach der Feuerwehr eintreffen und einige Informationen unbeabsichtigt gefiltert werden. Am Unfallort protokolliert der Notarzt eine Ersteinschätzung der Verletzungen und seine Verdachtsdiagnosen.

Die endgültige Dokumentation erfolgt dann im Krankenhaus, wo entsprechende Mittel wie bildgebende Verfahren zur Verfügung stehen, um Verletzungen eindeutig zu erkennen. Im Arztbrief müssen alle Details so weit möglich detailreich dokumentiert sein. Die Sorgfalt ist für Unfallgeschädigte und Behandler von größter Relevanz.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Johannsen.

Quelle: /georgerudy, stock.adobe.com

Kompakter E-Learning-Kurs: Dokumentation von Verletzungen nach Verkehrsunfällen

Inbesondere ausgerichtet an Ärztinnen und Ärzte aus der Allgemeinmedizin, sowie Inneren Medizin, bieten wir einen CME-zertifizierten E-Learning-Kurs zu dem Thema CED an.

Nach Abschluss des Kurses sind die Teilnehmenden in der Lage, eine gerichtsfeste Dokumentation sicher durchzuführen, typische Verletzungen in Abhängigkeit von der Verkehrsbeteiligung zu erkennen und die Bedeutung ausgewählter Verletzungen für die Unfallrekonstruktion zu verstehen. Der Kurs ist mit 4 CME Punkten zertifiziert.

Beitrag von Lisa von Prondzinski

Zur besseren Lesbarkeit verwenden wir zumeist das generische Maskulinum. Gemeint sind selbstverständlich stets Personen jedweden Geschlechts.

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